#BreakTheBias
Den Namen von Arnarulunnguaq haben weltweit wohl nur die wenigsten Leute schon einmal gehört (geschweige denn, dass sie ihn aussprechen können!). In Grönland ist sie aber eine bekannte Persönlichkeit, obwohl sie nur 37 Jahre alt wurde – und ihre großen Taten etwa 100 Jahre zurückliegen. Als einzige Polarforscherin nahm sie zwischen 1921 und 1924 an der berühmten 5. Thule-Expedition teil, die vom legendären Expeditionsleiter Knud Rasmussen angeführt wurde. Eine lange und physisch anspruchsvolle Expedition von 18.000 Kilometern zog sich durch große Teile der Arktis wie u.a. Grönland, Nordkanada und Alaska.
Für diese fast schon übermenschliche Leistung wurde sie auch belohnt. Unter anderem wurde sie von König Christian X. mit einer „Fortjenstmedalje“ (dt. Verdienstmedaille) in Silber geehrt – und selbst der damalige US-amerikanische Präsident Calvin Coolidge ließ ihr seine Grüße und Glückwünsche überbringen.
Als Siebenjährige wiedergeboren
Aber wer war diese arktische Globetrotterin Arnarulunnguaq, die an der extrem männerdominierten Thule-Expedition doch eher durch einen Zufall teilnahm?
Das Leben der Polarforscherin Arnarulunnguaq begann brutal. Als sie gerade erst sieben Jahre alt war, verlor sie ihren Vater. Für die Familie war dies auch ökonomisch eine Katastrophe, da üblicherweise der Mann Versorger der Familie war. Und da es keine Möglichkeit gab, Hilfe zu bekommen, musste ihre Mutter sich und die vier Kinder selbst versorgen. So gab es keinen anderen Ausweg, als eines der Kinder zu opfern. Weil Arnarulunnguaq das jüngste Kind und zudem ein Mädchen war, bedeutete es, dass sie zuerst geopfert werden sollte.
Dem Polarforscher Knud Rasmussen nach sollte sie – entsprechend der Tradition – sich selbst den Strick um den Hals legen und damit ihr Verständnis der Situation aufzeigen. In dieser unfassbar tragischen Situation brach ihr Bruder Ajako in Tränen aus und es endete damit, dass ihre Mutter die Opferung nicht ausführen konnte. Arnarulunnguaq betrachtete dieses Ereignis als eine Form der Wiedergeburt, die ihr eine ganz besondere Einstellung zum Leben eröffnete:
„Sie sagt nämlich selbst, dass die Dankbarkeit, die sie erst viele Jahre später fühlen konnte, und das Leben, das sie geschenkt bekommen hatte, sie den Menschen gegenüber gelassen gemacht hat.”
Arnarulunnguaq kam nach einem Ausfall mit
Die Todesfälle in ihrer Familie setzten sich fort und wieder wurde Arnarulunnguaq eine Hauptrolle zugedacht, die aber deutlich positiver als beim ersten Mal aussah. Denn eigentlich sollte ihr Bruder Ajako an der 5. Thule-Expedition teilnehmen, er starb aber aus ungeklärten Gründen. Als Ersatz wurde Arnarulunnguaq dafür ausgewählt, gemeinsam mit ihrem Mann, dem Fänger Iggiannguaq, teilzunehmen – aber auch er verstarb kurz vor Aufbruch der Expedition in Nuuk. Sie entschied sich, trotzdem gemeinsam mit verschiedenen Grönländern und Dänen an der Expedition teilzunehmen. Neben dem Expeditionsleiter Knud Rasmussen war noch ein weiterer berühmter Entdeckungsreisender dabei – nämlich Peter Freuchen. Die Teilnehmer aus Avanersuaq (dem Qaanaaq-Distrikt) trugen als Jäger, Hundeschlittenführer, Nähende und Kochende zur Expeditionsreise bei.
Am 6. September 1921 schrieb Knud Rasmussen:
„…Iggiannguaqs Witwe ist der Tod ihres Mannes naturgemäß sehr nahegegangen. Ich habe es ihr freigestellt, dass sie nach Thule zurückkehren kann… Sie hat mich heute um die Erlaubnis gebeten, fortzusetzen, da sie es für unerträglich betrachtet, hier in Südgrönland für unbestimmte Zeit unter fremden Menschen zu leben… ich bin sehr froh darüber, dass sie weitermacht… sie ist… die tüchtigste unter den Frauen, die wir dabeihaben.”
Speisen bei -50 Grad zubereiten
Am 7. September 1921 startete die Expedition und es wurden mehr als 18.000 Kilometer zurückgelegt, bis sie wieder am Ziel waren.
Zu Beginn der Expedition waren es mehr als zehn Teilnehmer, am Ende verblieben aber nur noch Knud Rasmussen, Arnarulunngaq und ihr Vetter Qaavigarsuaq, die den ganzen Weg zurücklegten.
Knud Rasmussen schrieb in „Die große Schlittenreise“, dass Arnarulunnguaq und Qaavigarsuaq die einzigen Inuit wären, die sämtliche Inuitgemeinden in der Arktis besucht hätten.
Dem weltberühmten Expeditionsleiter war es bewusst, dass eine der Ursachen, weshalb diese extrem kräftezehrende Schlittenreise in ihrer Gänze durchgeführt werden konnte, der aktiven Teilnahme von Arnarulunnguaq zu verdanken war. Davon berichtete er nach der Expeditionsreise im Frauenmagazin „Tidens kvinder”, wo er den von ihr erbrachten, übermenschlich großen Einsatz in Worte fasste.
In dieser Frauenzeitschrift beschrieb Knud Rasmussen sie als eine Person, die großen Eifer und große Sorgfalt dabei zeigte, ihre Pelz- und Lederkleidung in gutem Zustand zu halten. Auf den anstrengenden Tagesreisen mit dem Schlitten packte sie genau wie die Männer mit an, hatte am Abend aber noch zusätzlich das Essen zuzubereiten, die Pelzkleidung zu trocknen und auszubessern, die bei 50 Minusgraden und starkem Wind überlebensnotwendig war.
Darüber hinaus rückte Knud Rasmussen auch ihre ungewöhnliche Beobachtungsfähigkeit in den Fokus, die bei botanischen Sammlungen, der Konservierung zoologischer Materialien sowie archäologischen Ausgrabungen sehr hilfreich war. Zusammengefasst war Arnarulunnguaq wohl die Teilnehmerin der Expeditionsreise, welche die meisten Rollen und unterschiedlichsten Aufgaben übernahm.
Erinnerungen an Qaavigarsuaq
Treffen Sie Regine Kristiansen, die Tochter von Qaavigarsuak. Regine ist 82 Jahre alt, lebt in Qaanaaq und ist das einzige noch lebende Kind von Qaavigarsuak. In diesem Interview erklärt sie die Rolle ihres Vaters innerhalb der Expedition und den Grund, warum Knud Rasmussen ihn dafür auswählte. Sie teilt einige der liebsten Erinnerungen ihres Vaters an die Expedition.
Arnarulunnguaq ist für viele Frauen ein Vorbild
Das Sprichwort „hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau” passt so gut wie ein schmaler Frauenfuß in einen breiten Kamik-Stiefel, wenn man den großen Einsatz betrachtet, den Arnarulunnguaq bei der längsten Schlittenreise der Welt erbracht hat – und für die Knud Rasmussen den Großteil der Ehrungen und öffentlichen Lobgesänge einfuhr.
Arnarulunnguaq bedeutet „der kleine weibliche Mensch”. Im übertragenen Sinne war sie aber vielmehr „eine große Frau” – und ist seitdem ein Vorbild für viele Frauen, in mehrfacher Hinsicht neue Wege zu beschreiten.
Auch in der Kunst und Kultur wurde sie gepriesen. Hier folgt ein Auszug aus dem Gedicht „Det lille kvindemenneske” (dän. für „Der kleine weibliche Mensch“) von Aqqaluk Lynge:
ӆberall wo du gewesen bist
bleiben Miteq und du in Erinnerung.
Überall wo du gewesen bist
Arnarulunnguaq
Bleiben dein Humor und dein heller Geist in Erinnerung.
Niemand hat dir eine Tafel gebaut
Eine Statue oder ein Buch
aber dein Geist und deine Stärke
sind als Band überall
für unser Volk.
Ohne dich wäre die Welt nur halb
und die Reise unvollständig…”
Weitere Informationen zu Arnarulunnguaq:
Podcast
https://natmus.dk/vorestid/podcast-den-yderste-graense/ (S5E4)
https://podimo.com/dk/shows/9dbf0a74-3661-4b91-8c33-75190a0283f6/171cd8a6-5391-4657-b901-8b00776075f4 (on Podimo – private podcast platform)
Artikel von Martin Christiansen