Das Leben in Grönland unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht sehr stark von dem in Europa. Eine der ersten Lektionen, die man hier lernen sollte, ist, dass man sich von der Zeit als Kontrollfaktor verabschieden muss. Denn hier gibt nicht die Zeit den Takt vor, sondern die Natur. In Grönland gibt es oft keine Straßen zwischen den Orten und Ansiedlungen. Wenn man irgendwohin kommen will, braucht man ein kleines Flugzeug, einen Helikopter oder ein Boot und es ist nicht ungewöhnlich, Tage oder sogar Wochen aufgrund des schlechten Wetters irgendwo festzusitzen, weil der Flug oder die Überfahrt zu gefährlich wäre. Das ist etwas, das man akzeptieren muss, wenn man hier leben will. Man kann sich zwar einen Zeitplan machen, aber ob man diesen realisieren kann, das entscheidet in der Arktis allein das Wetter.
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Ein anderer beeindruckender Unterschied sind die weiten Entfernungen und die Einsamkeit. In Europa sind wir daran gewöhnt, eng miteinander verbunden zu sein. Wir sind immer online und können jederzeit für einen kurzen Moment zusammenkommen. Wir sind immer verfügbar. In Grönland ist das Gegenteil der Fall. Das Internet funktioniert oft nur schlecht und an vielen Orten gibt es überhaupt keine Internet– oder Handyverbindung. Und das arktische Meer, die Berge und eine schier endlose Eisdecke verhindern, dass man einfach schnell mal von einem Ort zum anderen fahren kann.
Das ist die Schönheit des Ganzen. Man lernt die Natur und das Leben auf andere Weise zu respektieren, als ich das beispielsweise in Dänemark getan habe, wo ich aufgewachsen bin. Wenn man sich aber darauf einlässt und die Einsamkeit und die Isolation annimmt, wird man sich plötzlich sehr leicht in die Arktis verlieben können.
Die Luft in Grönland ist unglaublich sauber und kalt – die Winter dauern sechs bis sieben Monate und sind gekennzeichnet durch meterhohen Schnee und eine konstant gefrorene Luft. Viele denken, dass die Winter hier dunkel sind, aber der Schnee und das Eis hellen die Dunkelheit auf. Wenn es in Europa dunkel ist, dann ist es meist richtig dunkel, aber in Grönland leuchtet immer das Eis. Und manchmal schimmern in der Nacht auch Nordlichter über den dunklen Himmel – grüne und rosafarbene schimmernde Schleier, sozusagen der Atem des sterbenden Sonnenlichts.
Doch das Faszinierendste am Leben in der Arktis ist das Eis, das Inlandeis, die riesige Eiskappe, die fast ganz Grönland bedeckt. Das Eis glitzert in endlosen Farben. Manchmal ist es weiß, manchmal blau, manchmal kristallklar. Und es ist nicht einfach nur gefrorenes Wasser. Es ist Wasser, das vor mehr als 100.000 Jahren zu Eis geworden ist. Wenn große Klumpen der Eisberge auseinanderdriften und an die Küste treiben, kann man dieses Eis berühren und seine Kälte auf der Haut spüren. Ich nehme manchmal ein kleines Stück davon in den Mund, schließe die Augen und spüre der Vergangenheit nach, während das Eis schmilzt. Es ist wie eine Zeitmaschine, mit jedem einzelnen Tropfen kann man durch die Zeit reisen. Das ist magisch. Wie Grönland.
Für einen Schriftsteller ist durch Grönland zu laufen, wie durch ein endloses Meer von Worten zu laufen. Alles ist so anders und so real, dass bei jedem Schritt plötzlich ganze Geschichten auftauchen. Ich habe oft davon gehört und darüber gelesen, dass isländische Autoren der Natur, der Umgebung und dem Leben in Island eine Teilhabe an der Qualität ihrer Bücher zuschreiben, aber erst als ich selbst nach Grönland gezogen bin, habe ich festgestellt, dass sie recht haben. Ich habe mein erstes „arktisches Buch“ – EISROT – geschrieben, nachdem ich ein Jahr in Grönland gelebt hatte. Ich trug so viele unglaubliche Eindrücke in mir – auch die Dunkelheit hatte ich kennengelernt – dass ich einfach darüber schreiben musste. Für mich ist Grönland eine unerschöpfliche Quelle und ich werde noch viele Bücher schreiben, die Grönland zum Schauplatz haben. Mein Autorenherz liebt diesen schönen und abgelegenen Ort der Erde.