Normalerweise sagen die Menschen, die gerne viel reden, nicht besonders viel. Das gilt wohl weltweit. Die Inuit aus Qaanaaq im hohen Norden von Grönlands Westküste sind anders.
Als wir auf dem Schlitten, der von Hunden gezogen wird, sanft zum Rande des Meereises gleiten, sehe ich warum. Die omnipräsente Stille der Landschaft muss eine Rolle dabei gespielt haben, wie sich die Menschen entwickelten, die hier über Generationen leben.
Die Landschaft redet nicht viel. Es ist Anfang Mai, windstill, keine Vögel oder andere laute Tiere sind in der Nähe. Und doch sagt die Landschaft eine Menge.
„Die Landschaft redet nicht viel. Es ist Anfang Mai, windstill, keine Vögel oder andere laute Tiere sind in der Nähe. Und doch sagt die Landschaft eine Menge.“
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Die betörend schöne Landschaft der Arktis erzählt eine der besten Geschichten unserer Zeit. Es ist eine Geschichte über die faszinierende wie verwundbare Schönheit der Natur und über die Triumphe derjenigen Menschen, die es hier trotz aller Härten aushielten. Es ist die Geschichte über das Leben, welches in der Wüste des Universums gedeiht.
Naimanngitsoqs Vorfahren, das sogenannte Thulevolk, sind vor etwa 1000 Jahren hierher gekommen. Vor ihnen gab es einige mehr oder weniger erfolgreiche Versuche von Menschen, in dieser Wildnis zu überleben, aber das Thulevolk war als erstes und bisher einziges erfolgreich darin, diesen extremsten Bedingungen auf der Erde standzuhalten.
Hauptgrund für ihr erfolgreiches und langfristiges Überleben waren die neuen Technologien, die sie entwickelten: Hundeschlitten, Kajak, und Harpune. Heute gibt es nur noch ein Dutzend Menschen in der ganzen Arktis, die sowohl den Hundeschlitten als Haupttransportmittel sowie Kajak und Harpune für die Jagd auf Narwale nutzen. Naimanngitsoq ist einer von ihnen.
Ich denke darüber nach, wie einzigartig und großartig das ist, während wir auf dem Schlitten an die Kante des Eises reisen. Naimanngitsoq spricht nicht viel mit seinem Kollegen Aleqatsiaq Peary auf dem anderen Schlitten oder mit mir, aber er raunt die ganze Zeit über den Hunden etwas zu:
Haqoq haqoq haba haba
Atatatatoq atatatoq
Hoq hoq hutuq hoq hoq hutuq
Atatatatoq atatatoq
Diese sich wiederholenden Laute lassen mich zu mir finden und erweichen die Ruhe der uns umgebenden Landschaft. Die Sonne kreist um uns, tief am Horizont, und färbt alles in heiliges Licht. Eingeschlossene Eisberge erheben sich aus dem flachen Meereis wie Kathedralen, als vergängliche Tempel, die sich bald befreien, weitertreiben und auf ihrem Weg gen Süden schmelzen werden.
Am Rande des Eises, welchen wir endlich erreichen und wo wir einige Tage campen und auf Narwale warten, kommen und gehen Blöcke aus Meereis mit den Gezeiten. Robben tauchen aus den kalten Gewässern auf und wieder ein, Vögel kreischen und schreien, während sie über uns hinweg fliegen und nach Fisch suchen. In der Ferne stoßen Wale ihren Blas aus. Die Eiskante ist eine ganz neue Welt für mich, dynamisch, voller Geräusche und voller Leben. Naimangitsoq jedoch bleibt still und schaut tagelang auf das Meer, um Narwale zu erspähen.
In einem Monat wird das hier alles offene See sein, die Eisberge schwimmen davon, das Meereis taut auf, die Welt ändert sich. Deshalb ist es hier vielleicht schöner als anderswo. Weil es flüchtig ist. Weil es vergänglich ist.
Naimanngitsoq sitzt in seinem Kajak, nimmt seine Harpune und paddelt davon, während ihn seine Hunde von der Eiskante aus beobachten. Dieses Motiv ist sinnbildlich. Seine Kontinuität über die Zeiten, die Wechsel der Jahreszeiten und die Herausforderungen der Geschichte tragen zur inneren Schönheit dieses einzigartigen Ortes bei.
Keines der anderen Völker hat es jemals geschafft, hier in Zusammenarbeit mit der Natur sesshaft zu werden.
Auch die Wikinger und die Dänen hatten keinen Erfolg. Nur das Thulevolk konnte in dieser rauen Welt überleben, in diesem kalten Paradies.
Die Möglichkeit zu haben, mit einem von ihnen auf dem Hundeschlitten zu reisen und Zeuge von der Lebenskunst des Überlebens zu werden, ist ein wahrer Segen, für den ich sehr dankbar bin.