Viele von uns kennen die Erzählung von Erik dem Roten, der kontinuierlich für Ärger sorgte und so seinen Weg nach Grönland fand, nachdem er aus Norwegen und Island wegen Mordes verbannt wurde. Es heißt, dass er Grönland etwas missverständlich so benannt hatte, um seine Landsleute zu überzeugen, ins „grüne Land” zu ziehen. Erstaunlicherweise funktionierte das, womit seine ursprüngliche Reise 984 n. Chr. den Beginn der Wikingerzeit in Grönland einläutete.
Zwischen 984 n. Chr. und einem unbekannten Jahr im 15. Jahrhundert stellten die Wikinger (oder auch Nordmänner) von Grönland den abgelegensten Außenposten europäischer Zivilisation. Sie lebten in zwei Siedlungen an der grönländischen Westküste. Die ,Westsiedlung’, die tatsächlich weiter nördlich als westlich von der ,Ostsiedlung’ lag, befand sich an der Mündung des Nuukfjords, wie wir ihn heute nennen. Die Ostsiedlung war deutlich größer (etwa 2.000 oder 3.000 Bewohner im Vergleich zu 500 in der Westsiedlung) und erstreckte sich über die Region, die wir als Südgrönland kennen.
Obwohl die Nordmänner in Grönland eine blühende Gesellschaft aufbauten, die über 400 Jahre lang Bestand hatte, bleibt ihr Verschwinden eines von Grönlands großen Geheimnissen. Es gibt viele Theorien, aber keine grundlegende Erklärung dafür, wie und warum die gesamte Gemeinschaft irgendwann im 15. Jahrhundert verschwand.
Continues further down the page...
Die altnordisch-grönländische Gesellschaft war sehr kompliziert im Gleichgewicht zu halten. Früher in Norwegen und Island baute die Wikingergemeinschaft auf Viehzucht, der Herstellung von Milchprodukten wie Butter, Käse und Skyr (isländischer Joghurt) und auf dem Ansehen der Kirche auf. Diesen Lebensstil in ein so raues und abgeschiedenes Klima wie das grönländische zu transformieren, erforderte die Entwicklung einer vielschichtigen, interdependenten Ökonomie. Alles musste sehr aufwendig geplant werden und die Gemeinschaft war starr organisiert. Grundsätzlich funktionierte das System, führte aber zu einer hohen Anfälligkeit der Gesellschaft, da das Scheitern jeder einzelnen Komponente alles in eine Krise stürzen konnte.
Es lassen sich 5 langfristige Probleme feststellen, mit denen die altnordische Gemeinschaft während ihrer gesamten Zeit in Grönland zu kämpfen hatte.
Auch wenn der Süden der fruchtbarste Teil des Landes ist, sind auch hier Grönlands natürliche Ressourcen nicht ausreichend, um eine große Gemeinschaft zu versorgen, die auf Landwirtschaft basiert. Ein Großteil des Viehs, welches die Nordmänner von Norwegen mitbrachten, kam in Grönlands kaltem Klima nicht zurecht. Die Weidesaison für die Kühe war viel kürzer, als sie es gewohnt waren, weshalb die Tiere einen deutlich längeren Teil des Jahres über drinnen gehalten werden und mit Heu gefüttert werden mussten – das musste aber erst wachsen und geerntet werden.
Ein Ergebnis dieser Schwierigkeiten mit der Landwirtschaft war, dass die Nordmänner zusätzlich auf die Jagd gingen, um ihre Nahrungsversorgung zu sichern. Bald nach ihrer Ankunft in Grönland begannen sie, Rentiere und Robben im großen Stile zu jagen. Die Wikinger verfügten über Jagderfahrung aus Norwegen und Island; die groß angelegte, gemeinschaftliche und streng organisierte Jagdform auf die in Grönland ansässigen Tiere funktionierte mit ihren Fertigkeiten.
Wissenschaftler haben in der Vergangenheit damit argumentiert, dass der Niedergang der Wikinger damit zusammenhing, dass sie auf diesem Gebiet nicht von den Inuit lernten. Inuit hatten bereits kluge und effiziente Methoden entwickelt, um Wale und Ringelrobben zu jagen. Obwohl die Nordmänner höchstwahrscheinlich Zeugen dieser Jagden wurden, scheint es, als ob sie nie selbst versucht hätten, diese Techniken anzuwenden. Die Jagd in schweren Holzbooten, statt in den kleinen aus Robbenhaut gefertigten Kajaks der Inuit, führte wohl zu einem Nachteil der Nordmänner bezogen auf die Jagd.
Trotzdem argumentieren manche Experten auch, dass es einfach keine Beuteengpässe in Grönland gab, die es notwendig machten, die Jagdmethoden grundsätzlich in Frage zu stellen, die für die Nordmänner bis dato doch gut funktioniert hatten.
Als die Wikinger in Grönland ankamen und ungefähr bis ins Jahr 1300, war das Klima relativ mild – vielleicht etwas wärmer als das grönländische Wetter heute. Diese Bedingungen erleichterten es, Heu anzubauen und Vieh zu weiden. Allerdings wurde das Klima allmählich kälter und unbeständiger, bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts die ,Kleine Eiszeit’ ausbrach. Das kältere Wetter erschwerte es, Heu anzubauen und blockierte die Schiffswege zwischen Grönland und Norwegen durch Meereis, weshalb es immer schwieriger wurde, Schiffe zu den isolierten Nordmännern zu befördern.
Die Nordmänner konnten keinesfalls den nahenden Kältezyklus in der Weise voraussehen, wie wir den Klimawandel heute vorab bestimmen können. Doch sie nahmen die Herausforderungen an, richteten ihre Landwirtschaft stärker auf Schafe und Ziegen aus, die beim Weiden wesentlich anspruchsloser als Kühe sind.
Norwegen war Haupthandelspartner des altnordischen Grönlands und hatte ursprünglich einen großen Bedarf an Gütern, die es nur aus Grönland bekam, etwa Elfenbein aus Walrossstoßzahn. Als Norwegen für Elefantenelfenbein wieder mit Asien und Ostafrika handeln konnte, sank die Nachfrage nach grönländischen Exporten.
Norwegen hatte zudem mit anderen Problemen wie etwa einer großen Pestepidemie (1349–1350) zu kämpfen. Schiffe nach Grönland zu senden, verlor deswegen an Bedeutung. Weniger Austausch mit Norwegen führte dazu, dass die grönländischen Nordmänner allmählich den Bezug zu ihrer Identität als Christen und Europäer verloren.
Inuit migrierten um das Jahr 1200 n. Chr. herum aus der kanadischen Arktis nach Nordwestgrönland, womit sich die Wikinger und Inuit mehrere Jahrhunderte lang diesen Teil Grönlands teilten. Höchstwahrscheinlich hatten die beiden Bevölkerungsgruppen Kontakt zueinander, wir wissen aber nicht, wie ausgeprägt oder angenehm diese Beziehungen waren. Viele Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass die beiden Gruppen im Allgemeinen miteinander handelten und die Siedlungen der anderen respektierten.
Die altnordische Gesellschaft Grönlands war sehr hierarchisch organisiert. Religion und Kirche galten als gesellschaftliche Grundpfeiler und legitimierten große Unterschiede im sozialen Status und der Gesundheit. Einige Berichte machen diese offenkundige Abhängigkeit von der Kirche für den Kollaps der Nordmänner in Grönland verantwortlich, indem sie behaupten, dass die Nordmänner ihre Beziehungen nach Europa über die vollständige Anpassung an die Lebensbedingungen in Grönland stellten.
Ein häufig zitiertes Beispiel ist die dauerhafte Walrossjagd, die für die Kolonie bis zu ihrem Niedergang eine wichtige Aktivität darstellte. Diese Jagden sicherten Luxusgüter wie das Elfenbein aus Walrossstoßzahn und die Felle, welche die Wikinger nach Europa exportierten. Einige Wissenschaftler argumentieren, dass die Zeit, Arbeitskraft und die Bootsausrüstung für diese Missionen im Rückblick falsch investiert waren.
In jüngerer Zeit haben Wissenschaftler aber auch wieder betont, dass die Motivation für die altnordischen Niederlassungen in Grönland hauptsächlich der Zugang zu arktischen Luxusgütern gewesen sein könnte. Das erklärt, warum so viel Anstrengung in die Walrossjagd gesteckt wurde, auch noch in den späteren Jahren, als die altnordische Gesellschaft zu verfallen begann.
Die kleinere Westsiedlung verschwand als Erste vollständig, die Gründe für ihren Untergang bleiben aber ungeklärt. Ein klerikaler Verwalter besuchte die Siedlung um 1350 und schrieb, dass Inuit die gesamte Westsiedlung übernommen hatten. Leider ging er nicht weiter auf Details oder Gründe ein.
Manche Wissenschaftler vermuten, dass die unglaublich kalten Bedingungen in der kleineren und isolierteren Siedlung zu Hungerleiden geführt hatten, während andere es für wahrscheinlich halten, dass die Bewohner von einem Angriff durch Inuit überwältigt wurden.
Dieses Kapitel der Wikingerzeit ist vielleicht das mysteriöseste – was hat letztendlich den Niedergang der größeren Ostsiedlung in Südgrönland bewirkt?
Die letzten schriftlichen Berichte aus der Ostsiedlung stammen aus dem Jahr 1408 und scheinen ,alles wie gehabt’ zu beschreiben. Das letzte Schiff kam 1410 aus Grönland in Norwegen an, nachdem das Klima im Nordatlantik kälter und windiger geworden war, wurde der Schiffsverkehr ganz eingestellt.
Der letzte Bischof starb um 1378 und es folgte niemand, um seinen Posten einzunehmen. Priester mussten aber von Bischöfen geweiht werden und ohne geweihten Priester konnten die Menschen nicht getauft oder verheiratet werden und sie erhielten auch kein christliches Begräbnis. Es fällt leicht, sich vorzustellen, dass die Gemeinschaft in der Ostsiedlung nach dem Tod des letzten geweihten Priesters zu kämpfen hatte.
Viele frühere Berichte haben die angenommene konservative und viel zu ausbeuterische Natur der altnordischen Grönländer für den Niedergang ihrer Gesellschaft verantwortlich gemacht. Sie nahmen an, dass die Nordmänner hartnäckig an der europäischen Lebensweise festhielten und sich Änderungen verweigerten. Heute sehen viele Wissenschaftler die Nordmänner dagegen als sehr anpassungsfähig und einfallsreich an und zitieren dafür die vielen Innovationen in Landwirtschaft und Jagdtechniken, die sie sich aneigneten.
Wenn man annimmt, dass die Nordmänner sehr gut angepasst waren, scheint ihr Verschwinden nur noch komplizierter und geheimnisvoller zu werden. Wahrscheinlich ist es, dass die weiter oben erwähnten 5 langfristigen Probleme dazu beigetragen haben, das Leben der Wikinger in Grönland zu erschweren, die nachlassende Nachfrage nach Walrosselfenbein vielleicht aber das größte Hindernis darstellte.
Gegen Ende waren die altnordischen Grönländer wahrscheinlich mit einer unmöglichen Entscheidung konfrontiert, als klar wurde, dass ihre Mission in Grönland fast verloren war – die Nachfrage nach Walrosselfenbein ging zurück, ihre Handelsstärke verringerte sich und machte sie anfälliger für Hungerleiden oder Attacken durch Inuit.
Vielleicht blieb als einzige Option, die Sachen zu packen und zurück nach Europa zu segeln. Die Flucht nach Europa wäre wohl keine echte ,Heimkehr’ für die Nordmänner geworden – zu diesem Zeitpunkt waren sie seit mindestens 400 Jahren in Grönland gewesen. Als Robben- und Walrossjäger aufgewachsen, gab es keinen Grund, warum sich die altnordischen Grönländer in Europa am richtigen Ort fühlen sollten. Es wäre ein großer Schritt gewesen, ihr Heimatland und die von ihnen aus dem Nichts aufgebaute Gesellschaft zu verlassen.
Auch wenn ihr Ableben ziemlich im Fokus des Interesses steht, erzählen die Wikinger von Grönland in vielerlei Hinsicht auch eine Erfolgsgeschichte. Sie schafften es, eine Gesellschaft für über 400 Jahre aufzubauen, die ihre Nahrungsproduktion völlig autark gestaltete – heute hängt Grönland zu großen Teilen stark von den Essensimporten aus Dänemark ab.
Die hierarchische Gesellschaftsstruktur führte jedoch zu Konflikten zwischen den kurzfristigen Interessen der Mächtigen und den langfristigen Interessen der Gesamtgesellschaft. Die Priorität auf Luxusexporte nach Europa verbrauchte Ressourcen, die besser in die Landwirtschaft geflossen wären, wenn das Überleben wichtigstes Ziel gewesen wäre. Wenn das Hauptziel aber doch war, die arktischen Luxusgüter zu sichern, dann kann die altnordische Besiedlung in Grönland als großer Erfolg gewertet werden.
Die Erfolgsgeschichte der Wikinger lebt heute in Südgrönland weiter, da die von ihnen eingeführte Landwirtschaft zentraler Bestandteil der Kulturlandschaft ist, die der Gegend den Status als UNESCO-Welterbestätte einbrachte. Über die Siedlungen Südgrönlands verstreut, finden sich einige Schaffarmen, die auch als Pensionen betrieben werden und wo Sie in die lokale Farmkultur eintauchen können.
1783 siedelten sich der Norweger Anders Olsen und seine grönländische Ehefrau Tuperna wieder in Igaliku an, dem alten Hof Gardar. Heute betreiben ihre Nachfahren hier auf den ehemaligen Feldern der Wikinger eine Landwirtschaft, die von den altnordischen Bauern wie auch den kulturellen Traditionen Grönlands geprägt ist.
Brattahlid war der Hof von Erik dem Roten höchstpersönlich und ist heute vielleicht eine der ehemaligen Wikingerbesiedlungen, die am besten erhalten ist. Die Gegend um Qassiarsuk beherbergt außerdem die Nachbildung eines Wikinger-Langhauses und Tjodhildes Kirche, die als erste christliche Kirche auf dem nordamerikanischen Kontinent errichtet wurde.
Die Hvalsey Kirche ist ebenfalls gut erhalten und vielleicht die am häufigsten besuchte Wikingerruine, da sie nahe Qaqortoq, der größten Stadt in Südgrönland, gelegen ist. Um die Kirche herum liegen die Überreste von Wohnhallen, Scheunen, Lagerhäusern, Bootshäusern und Weiden, welche die Wikingergemeinschaft in Grönland stützten.
Weitere Informationen über Reisen in den Fußstapfen von Südgrönlands Wikingern finden Sie hier.
Ein herzlicher Dank gilt Christian Koch Madsen von Grönlands Nationalmuseum für seinen unschätzbaren Beitrag zu diesem Artikel.
Weitere englischsprachige Quellen zum Aufstieg und Niedergang der Wikingerära in Grönland können Sie hier austesten:
Jette Arneborg’s book Saga Trails
Zach Zorich’s article in Scientific American
Hartman et al.’s article Medieval Iceland, Greenland, and the New Human Condition
Jared Diamond’s book Collapse: How Societies Choose to Fail or Succeed