Wer sind Inuit?
Inuit bilden die Bevölkerungsgruppen, die im arktischen Teil des nordamerikanischen Kontinents leben. Das sind die Gegenden, die wir heute als Alaska, Kanada und Grönland kennen. Die Inuitkultur basiert auf der Jagd. Ihre Lebensweise wurde im arktischen Umfeld entwickelt und auf die Beutetiere angepasst, die in diesen Gebieten leben.
Bei den Inuit ist alles, was uns umgibt, ,heilig’, also spirituell und geistlich. In dieser Weltanschauung ist alles lebendig und hat eine Seele. Dazu zählen die gesamte Vegetation, alle Tiere und die Erde selbst. Alle Elemente, die uns umgeben, sind an das arktische Milieu angepasst. Sie verfügen jeweils über ihre eigene Stärke und eine besondere Eigenschaft, die wir uns von ihnen ausborgen, um uns gegen die harten Bedingungen zu schützen, unter denen wir leben. Diese Elemente haben unseren Gebrauch von Amuletten und Tunniit stark geprägt.
Tätowierungen, Kakiornerit oder Tunniit?
Der Entstehungsprozess und die Ausführungsmethode der Körperzeichnungen werden umgangssprachlich in Westgrönland Kakiorneq und in Ostgrönland Kagierneq genannt. Kakiorneq/Kagierneq lässt sich als ,mit einer Nadel eingestochen’ oder ,untergestochen’ übersetzen.
Das Wort Tätowierung stammt von dem englischen Wort Tattoo (tattow), wie es der englische Entdeckungsreisende James Cook fehlerhaft vom polynesischen Wort Ta tatau übernahm, mit dem die dortige Bevölkerung ihre Körperzeichnungen benennt. Da dieser Begriff seinen Ursprung in einer anderen Kultur und Sprache hat, deren Tradition von Körpermarkierungen eigenen Intentionen folgt und da Inuit für ihre Tradition ein eigenes Wort und einen eigenständigen Begriff haben, wünschen sie sich, dass man diesen respektiert und ihre Körperzeichnungen mit ihrem ursprünglichen Namen, also Tunniit, benennt. Tunniit ist eine Mehrzahlbezeichnung für Tunneq (,dort, wo etwas gelandet ist’), wie man sie wegen der einzelnen eingenähten Stiche nennt, der Kakiorneq, die auf der Haut sichtbar sind. Und wenn man diese Einstiche in Reihen platziert und Muster aus ihnen formt, werden daraus Tunniit.
Wusstet ihr?
Tuunniit: Vergangenheit und Gegenwart
1972 wurden 8 Mumien bei einem alten Siedlungsplatz namens Qilakitsoq, der bei Uummannaq liegt, gefunden. Ihre Lebenszeit wird um das Jahr 1475 n.Chr. herum datiert und von den 8 Mumien waren 6 Frauen und 2 Kinder, von denen 5 Frauen Tunniit trugen. In der gesamten arktischen Region drücken Tunniit die kollektive wie spirituelle Verantwortung von Frauen aus und präsentierten eine besondere Weiterführung ihrer Fertigkeiten, die sich hier im Nähen ausdrückten. Denn es waren hauptsächlich Frauen, welche diese Technik ausführten und welche die Tunniit selber trugen. Deshalb bleibt es ein Rätsel, warum die jüngste Frau aus Qilakitsoq, die etwa 20 Jahre alt wurde, keine Tunniit trug. In seltenen Einzelfällen konnte wohl auf die Durchführung einer Tradition verzichtet werden oder diese wurde an die besonderen Umstände „angepasst“. In dem spezifischen Fall haben wir aber nur Theorien dazu entwickelt, warum sie keine Tunniit getragen hatte.
Kakiorneq-Methoden
Die am weitesten verbreitete Methode wurde von den Frauen mit ihren Nähnadeln und Sehnenfäden durchgeführt, die in eine Mischung aus Ruß, Öl und Urin getaucht und dann durch die äußeren Hautschichten gefädelt wurden. Dabei blieben feine Linien unter der Haut zurück, die in engen Reihen die Muster für Amulette formten, welche die Frauen auf ihren Körpern trugen. An einigen Orten wurde eine Methode unter Verwendung scharfer Werkzeuge durchgeführt, mit denen ein kleines Loch in die Haut gestochen wurde. In dieses Loch stachen sie anschließend noch einmal mit einem gerußten Werkzeug ein, das dann einen kleinen Punkt hinterließ. Die Tunniit der Frauen aus Qilakitsoq tragen Anzeichen dafür, dass beide Methoden angewendet wurden.
Die wichtigsten Markierungen für Frauen
Für Inuit sind die wichtigsten Zeichen jene, die man im Gesicht oder an den Händen trägt. Das erste Tunniit einer Frau ist ursprünglich ein Talloqut, eine Zeichnung am Kinn, die sie bekommt, wenn sie in ihren Fertigkeiten gut ausgebildet ist. Dann soll sie bereit sein, eine aktive Rolle in der Gemeinschaft zu übernehmen und für diese Verantwortung zu tragen. Dies geschah häufig in dem Alter, in dem junge Frauen zum ersten Mal ihre Menstruation bekommen. Aber gewisse Umstände konnten es notwendig machen, dass ein Mädchen schneller erwachsen wurde. Zu Zeiten des Überflusses dagegen, in welchen die spirituelle Verantwortung auf viele Frauen aufgeteilt werden konnte, durften Mädchen auch länger Mädchen bleiben.
Die Formen der Gesichtszeichnungen zeigen, welcher Inuit-Gemeinschaft man zugehört und daher variiert das Aussehen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Inuit. Besonders an Stirn und Wangen werden die Gruppenmarker sichtbar.
Die Muster waren als Amulette intendiert, die mit einer bestimmten Praxis oder mit Werkzeugen in Verbindung standen.
Sehnenfäden, die in unserer Kultur eine der wichtigsten Erfindungen darstellen, ermöglichten es, Stoffe für Kleidung, Qaannat (Mehrzahl für Kajak) und Umiat (,Frauenboote’) zu nähen. Sie sind die Erfindung, die unser ganzes Dasein verknüpfte. Das erklärt auch, warum es so wichtig war, gut mit ihnen versorgt zu sein. Dies sieht man deutlich in den Tunniit der Frauen, in denen die Sehnenfäden-Amulette sowohl als einzelne Amulette und in Kombination mit anderen Mustern stark vertreten sind.
In der Arktis dauert der Winter 8 Monate und in den nördlichsten Gebieten erstreckt sich die Polarnacht über mehrere Monate. Die Flamme der Specksteinlampe ist dann die einzige Licht- und Wärmequelle und bietet die Möglichkeit, warme Speisen zuzubereiten. Da sie immer den Wunsch mit sich trugen, dass diese Flamme niemals ausgehen sollte, trugen die Frauen sie auch als Amulett.
Obwohl die Fänger fantastische Fertigkeiten für die Jagd entwickelt hatten und über Generationen das Wissen über Beutetiere und Jagdmethoden weitergegeben hatten, gehörte auch immer noch Glück zu einer erfolgreichen Jagd dazu. Dafür trugen die Frauen spezifische Linien auf den Fingern, um die Meeresgöttin Takannaaluk zu ehren, aus deren Fingern die Meerestiere entstammten. Außerdem trugen sie Zeichnungen von Walflossen, um die Wale anzurufen und darüber sicherzustellen, dass diese Beutetiere dauerhaft in die Nähe der Fangplätze ihrer Gemeinschaft kamen.
Die Muster der Amulette auf den Handrücken und Armen sollten die Ressourcen der Gemeinschaft schützen und darüber ihr Überleben sichern. Die Amulette an den Beinen der Frauen sollten die Geburt zukünftiger Kinder garantieren. Zugleich sollten diese Kinder bei ihrer Geburt gleich etwas Schönes sehen.
Auch wenn es hauptsächlich Frauen waren, die Tunniit praktizierten und trugen, hatten auch Männer einzelne Markierungen. Diese standen etwa in Verbindung zum Walfang oder sollten sie von einem Vorgang reinigen und Wiedergutmachung leisten, wenn sie ein Tier harpuniert hatten, das entkommen war und sie nicht die Bräuche ausführen konnten, die der Seele des Beutetieres helfen sollten, Ruhe zu finden.
Als die Tunniit verschwanden & später wieder mit Leben erfüllt wurden
Alle Inuit wurden mit der Ankunft der Missionare zur Abkehr von ihrer Religion und Weltanschauung gezwungen. In Grönland geschah dies mit der Ankunft der Missionare 1721. In weniger als 50 Jahren verschwand der Brauch von Tunniit allmählich von der westgrönländischen Küste. Ostgrönländische Inuit haben dennoch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Tunniit praktiziert, da sie erst 1894 kolonialisiert wurden. Sie brachten die Tunniit auch mit, als eine Gruppe von ihnen Richtung Süden migrierte.
In anderen Inuit-Gebieten wie Nunavut (Kanada), Alaska sowie Sibirien fand die Kolonialisierung später statt und durch noch lebendige Erinnerungen an Tunniit wurden diese zu Beginn des 21. Jahrhunderts revitalisiert und wieder praktiziert. In Zusammenarbeit mit Inuit aus Alaska wurden Tunniit 2017 in Grönland wieder eingeführt. In den letzten Jahren haben viele Inuit sich wieder für Tunniit entschieden und damit der Praxis neues Leben eingehaucht. Auch wenn Tunniit aus einer Zeit stammen, in der Inuit vom Fang abhingen und ihre Spiritualität darauf basierte, dass alles eine Seele hat, wenden viele Inuit sie auch heute in der gleichen Tradition wieder an. Sie tragen diese im Namen der ihnen Nahestehenden und um ihre Verbindung zu ihrer Kultur und ihren Vorfahren aufzuzeigen und diese zu ehren.
Auch wenn Tunniit von vielen Inuit schon wieder getragen werden, ist die Neubelebung dieser Praxis noch sehr frisch und fragil. Viele haben die Anwendung und die Intentionen dahinter noch nicht wieder neuerlernt. Es kann als schwieriges Thema empfunden werden, wenn man von Menschen, die selber keine Inuit sind, danach gefragt wird. Denn nicht alle fühlen sich wohl dabei, Informationen darüber zu teilen, da die meisten Inuit sich Tunniit aus sehr persönlichen Gründen machen lassen – und aus unseren menschlichen und spirituellen Wertvorstellungen als indigenes Volk.
Darf ich auch oder lieber nicht?
Darf ich mir auch ein Tunniit stechen lassen
Da die Muster der Amulette und ihre spirituellen Hintergründe ihren Ursprung in der Inuitkultur haben, ist es ein weitverbreiteter Wunsch, dass diese nur von Inuit getragen werden, damit sie weiterhin ihrer Intention entsprechend getragen werden können.
Wenn man sich Tunniit wie ein Souvenir stechen lässt, wird man sie ohne ihre Bedeutung tragen und das wird der Kultur und ihrer Wiederbelebung nicht dienlich sein.
Obwohl viele Inuit dafür sind, dass Tunniit ausschließlich von Inuit getragen werden, kann man die Künstlerinnen und Künstler vor Ort dennoch unterstützen, indem man ihre Kunst und ihre Eigenkreationen kauft. Das gilt auch, wenn sie Tunniit in ihre Kunstwerke integrieren. Indem man diese Werke kauft, unterstützt man die Künstlerinnen und Künstler in der Erzählung und Vermittlung der Inuitkultur.
Häufig gestellte Fragen
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Wer sind die Inuit?
Inuit bilden die Bevölkerungsgruppen, die im arktischen Teil des nordamerikanischen Kontinents leben. Das sind die Gegenden, die wir heute als Alaska, Kanada und Grönland kennen.
An was glauben Inuit?
Bei den Inuit ist alles, was uns umgibt, ,heilig’, also spirituell und geistlich. In dieser Weltanschauung ist alles lebendig und hat eine Seele.
Wie werden die Tätowierungen der Inuit genannt?
Die Kunst des Inuit-Tätowierens wird Tunniit genannt. Der Prozess und die Durchführungsmethode werden heute in Westgrönland Kakiorneq und in Ostgrönland Kagierneq genannt.
Warum lassen sich Inuit ihr Gesicht tätowieren?
Frauen bekommen als erste Tunniit die Talloqut, das sind Kinnmarkierungen, wenn sie bereit sind, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Stirnmuster sollen Maliina, die Sonne, ehren.
Was bedeuten Tunniit (die Tätowierungen der Inuit)?
Die Muster hatten die Intention, wie ein Amulett zu wirken. Sie standen in Verbindung zu einer Tätigkeit oder einem Werkzeug wie etwa einem Sehnenfaden, der Flamme in der Specksteinlampe oder wurden zu Ehren eines Beutetieres getragen. Andere sollten dabei helfen, sich gut mit der Meeresgöttin Takannaaluk zu stellen, aus deren Reich alle Beutetiere stammen. Die Muster der Amulette auf den Handrücken und Armen sollten die Ressourcen der Gemeinschaft schützen und darüber ihr Überleben sichern. Die Amulette an den Beinen der Frauen sollten die Geburt zukünftiger Kinder garantieren. Zugleich sollten diese Kinder bei ihrer Geburt gleich etwas Schönes sehen.
Was bedeuten Tunniit (die Inuit-Tätowierungen) am Kinn?
Das erste Tunniit einer Frau ist ursprünglich ein Talloqut, eine Zeichnung am Kinn, die sie bekommt, wenn sie in ihren Fertigkeiten gut ausgebildet ist. Dann soll sie bereit sein, eine aktive Rolle in der Gemeinschaft zu übernehmen und für diese Verantwortung zu tragen. Dies geschah häufig in dem Alter, in dem junge Frauen zum ersten Mal ihre Menstruation bekommen. Die Formen der Gesichtszeichnungen zeigen, welcher Inuit-Gemeinschaft man zugehört und daher variiert das Aussehen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Inuit.
Wie werden die Inuit-Tätowierungen gemacht?
Die am weitesten verbreitete Methode wurde von den Frauen mit ihren Nähnadeln und Sehnenfäden durchgeführt, die in eine Mischung aus Ruß, Öl und Urin getaucht und dann durch die äußeren Hautschichten gefädelt wurden. An einigen Orten wurde eine Methode unter Verwendung scharfer Werkzeuge durchgeführt, mit denen ein kleines Loch in die Haut gestochen wurde. In dieses Loch stachen sie anschließend noch einmal mit einem gerußten Werkzeug ein, das dann einen kleinen Punkt hinterließ.
Artikel von Paninnguaq Pikilak