Mit einer Erwartung im Körper, wie ich sie erst wenige Male hatte, sitze ich da und schaue auf die riesige Eismasse, die sich viel weiter ausbreitet, als man sie sehen kann. Tatsächlich kann ich mich nur daran erinnern, dieses Gefühl zwei oder drei Mal verspürt zu haben; als ich als 23-Jähriger alleine nach New York kam, als ich zum ersten Mal den Boden von Bangkok betrat und nicht ahnte, was Asien zu bieten hatte, und bestimmt auch, als ich gemeinsam mit einem sehr guten Freund auf Royal-Enfield-Motorrädern durch Südindien kurvte.
Es wird deutlich, dass das rote Flugzeug den Anflug begonnen hat, der letzte Schluck Bier fließt den Hals hinunter und der Klapptisch wird routiniert nach oben geklappt. Es vergeht nur ein kurzer Augenblick, bis wir über den Lautsprecher des Flugzeugs genau darüber informiert werden. Wir sind unserem Reiseziel Kangerlussuaq (das früher auf Dänisch Søndre Strømfjord hieß) nämlich schon ziemlich nah. Der dänische Name erklärt sich von selbst, da wir über den langen Fjord einfliegen, von dem ich später erfahre, dass er 177 Kilometer lang ist.
Ich bin nicht alleine. Mein Freund Anders, der Fotograf ist und mit dem ich schon zwei Bücher über Essen und Esskultur auf Bornholm gestaltet habe, sitzt neben mir. Er ist der Glückliche, der den Fensterplatz bekommen hat. Normalerweise ist mir das keine große Diskussion wert, aber hier über Grönland und dem Inlandeis ist es wirklich noch viel besser, die Nase gegen die Scheibe pressen zu können, als es das bei unserer letzten Tour zurück aus China war und uns die Wüste Gobi stundenlang ihre braune Landschaft zeigte. Anders verschwendet keine Zeit. Die Kamera klickt so viel, dass man glauben könnte, die Haut an seinem Zeigefinger müsste sich schon abgelöst haben.
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Auf der anderen Seite des Mittelganges sitzt Kennie, der Anders und mich filmen wird, wenn wir uns auf unsere Abenteuer begeben. Kennie ist einer meiner ältesten und besten Freunde. Wir haben schon unglaublich viel zusammen erlebt – viele Urlaube auf dem Snowboard, Autotouren durch Italien und nicht zuletzt war es auch er, mit dem ich durch Indien gereist bin.
Draußen verschwindet das Inlandeis und wir fliegen über den vereisten Fjord mit Bergen an beiden Ufern. Das ist unglaublich schön und ich kann es kaum erwarten, auszusteigen und die Kälte zu spüren.
Der Grund, warum wir hier so erwartungsvoll sitzen und auf die grönländische Landschaft starren, ist, dass Anders und ich gerne ein drittes Buch über Speisen, Esskultur und Menschen im Nordatlantik veröffentlichen möchten.
Das ist nicht gerade die einfachste Aufgabe. Glücklicherweise wird uns von einer der fantastischsten Personen geholfen, die ich jemals getroffen habe: Anne Nivíka. Sie ist in Grönland aufgewachsen, lebt in Nuuk und brennt für die grönländische Esskultur und dafür, das Wissen darüber weiterzugeben. Sie mag unser Projekt wirklich und hat nicht nur die ganze Tour für uns arrangiert, sondern auch noch unglaublich viel Arbeit in den Fundraising-Teil unseres Projektes gesteckt. Tatsächlich ist es ihr Verdienst, dass wir in wenigen Augenblicken unsere Stiefel auf den frostigen Boden in Kangerlussuaq setzen können.
Abgesehen von ihrer Unterstützung für verirrte Abenteurer wie uns, ist Anne auch in alle möglichen interessanten und relevanten Essensprojekte in Grönland involviert. Ich kann wärmstens empfehlen, ihre Website www.nivika.gl zu besuchen, auf der diese Projekte alle verlinkt sind.
Anne, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nie persönlich getroffen habe, sitzt in Nuuk und überblickt das straffe Programm, das sie für uns ausgearbeitet hat.
Ich kann es kaum erwarten, herauszufinden, welche Esskultur sich in Grönland findet. Selbstverständlich weiß ich über Robbe, Fisch und diese Aspekte Bescheid, aber wie sieht das heute aus, wo alle über Internet verfügen und Flüge aus Dänemark jeden Tag landen und Nahrungsmittel wie andere Sachen aus aller Welt mitbringen können? Stehen weiterhin Fisch und Robbe auf der Speisekarte? Und wie ist das hier im Landesinneren – was isst man hier?
Vor dem Hotel steht unser Guide Adam Lyberth und erwartet uns. Von seinem Aussehen lässt sich ableiten, dass er im Freien arbeitet. Er sieht einfach so gesund aus.
Er startet seinen blauen Land Cruiser, der sehr gut in Schuss ist, und wir fahren links herum. So viele Wahlmöglichkeiten gibt es gar nicht, obwohl dies Grönlands längste Straße ist. Sie ist 70 Kilometer lang und schlängelt sich vom Inlandeis den Fjord entlang.
Wir werden in der Umgebung herumgefahren und Adam erzählt etwas zu allen Dingen, die wir dabei zu Gesicht bekommen. Sowohl über die Natur, aber auch über all die Gebäude, welche die Amerikaner zurückgelassen haben, als sie ihre Militärbasis in dieser Region aufgaben.
Ich bin allmählich so voll von den gigantischen Eindrücken, die diese Natur auf einen macht, dass ich nicht mehr aufnehmen kann. Das muss bis morgen warten. Deshalb beginne ich, Fragen zur Esskultur dieser Gegend zu stellen. Die basiert nach wie vor und wenig überraschend auf dem, was man in der Umgebung jagen und fangen kann. Das sind Schneehasen, Rentiere, Moschusochsen und Vögel. Darüberhinaus wird ein Teil im Fjord gefischt. Im Winter funktioniert das, indem man ein Loch ins Eis bohrt und dadurch fischt. Im Sommer haben viele ihr eigenes Boot und fahren zum Fischen hinaus.
Tatsächlich hat Anne für uns arrangiert, dass wir ein paar Tage später hinausgehen und durch ein Loch im Eis fischen werden, das erzähle ich Adam. Er berichtet, dass dies etwas ist, was er sehr gerne tut. Wir sprechen weiter darüber, was man mit Glück alles fangen kann. Hauptsächlich ist das Uvak, eine etwas kleinere Kabeljauart, gewöhnlicher Kabeljau, Seewolf und mit Glück auch Heilbutt.
Adam ist schon dabei, eine Anekdote über den größten Fisch zu erzählen, den er draußen auf dem Eis gefangen hat: einen Seewolf von 26 Kilo! Ich unterbreche ihn, um mich zum Rücksitz umzudrehen und den anderen zu erzählen, dass das ein sehr gruseliger Fisch ist. Der hat sehr kräftige Kiefer und große, spitze Zähne. Selbst die Exemplare von 5-6 kg, die man in einer Restaurantküche zuhause in Dänemark bekommt, sind gruselig. Ich wage nicht einmal darüber nachzudenken, was man mit einem so großen Exemplar macht, das auch noch lebt…
Adam kommt mir zuvor und lacht mich für meine Frage aus: „Ich habe den mit einer 243-Kaliber-Jagdpatrone erschossen.”
Ein beeindrucktes Gelächter ertönt im blauen Auto, das allmählich zurück in die Stadt kehrt.
Adam fährt uns zurück ins Hotel, wo wir uns eine halbe Stunde lang ausruhen können, bevor wir von Nini abgeholt werden, die uns zu einem grönländischen Abendessen eingeladen hat.
Die grönländische Esskultur ist stark mit dem grönländischen Identitätsgefühl verbunden. Wenn Sie sich wie eine echte Grönländerin oder ein echter Grönländer fühlen möchten, sollten Sie unbedingt auch wie die Einheimischen essen!
Auf diese Weise erhalten Sie einzigartige Einblicke in eine Esskultur, die traditionell von dem abhängt, was sich in der Natur fangen lässt.
Es finden sich so viele Arten Kalaalimernit zu speisen, wie es Menschen gibt – dieser Guide soll eine Orientierung bieten, welche grönländischen Delikatessen Sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf Ihrer Reise antreffen werden.
Direkt gegenüber vom Hotel liegt die Boutique By Heart. Das ist Ninis Boutique, wo sie grönländisches Kunsthandwerk verkauft, u.a. die begehrte Moschuswolle, welche sie selbst aus den Fellen produziert, die ihr Mann mit nach Hause bringt, wenn er auf der Jagd nach den großen Tieren war. Die wir unbedingt noch sehen müssen.
Hier haben wir früher am Tag Adam getroffen und nun treffen wir uns hier mit Nini.
Wir atmen noch etwas mehr von der kalten und unglaublich frischen Luft ein, bis Nini mit ihrem Auto ankommt.
Sie und ihr Mann haben für uns das Abendessen zubereitet. Das wird fast schon zu viel, wenn man bereits von den ganzen Erlebnissen gesättigt ist und der Tag bereits um 1 Uhr nachts grönländischer Zeit auf Bornholm begonnen hatte. Gleichzeitig wird es aber sehr aufregend sein, das Essen zu probieren und auch von Menschen über die Esskultur erzählen zu hören, die in unserem Alter sind.
Nini und ihr Mann Jens wohnen gemeinsam mit ihrer Tochter auf der anderen Seite des Flughafens.
Auf dem Herd steht bereits ein Topf und köchelt.
Ich kann nicht anders, als hineinzuschauen.
Der Inhalt ähnelt dem, was ich als Koch schon sehr oft gesehen habe, nämlich einem massigen Fleischstück und ein paar Karotten. Oben bilden sich Fettaugen. Ich vermute, dies ist unser Abendessen.
Nini kommt herüber und erzählt, dass dies eine Moschussuppe ist – ein Gericht, das sie erst seit kurzem zubereiten.
„Wir haben herausgefunden, dass man die zäheren Fleischstücke vom Moschus gut essen kann, wenn man sie länger kocht. Dann werden sie richtig zart”, erzählt sie begeistert.
„Und schau…”, setzt sie fort, „…wir haben Karotten dazugegeben. Das ist hauptsächlich euretwegen, wir essen nicht so viel Gemüse. Das hat hier meistens eine schlechte Qualität und ist sehr teuer. 1/8 Knoblauch kostet 20 Kronen (ca. 2,70 €) und eine Wassermelone 80 Kronen (ca. 10,70 €)”, erzählt unsere charmante Gastgeberin leicht verärgert.
„Nini…”, frage ich neugierig, „…wie stellst du sicher, dass deine Tochter alle Vitamine und Mineralien erhält, die sie benötigt, wenn ihr nur selten Gemüse esst?”
Sie erzählt, dass sie im Sommer Beeren und Kräuter sammelt, die sie jeweils trocknet, einfriert und zu Marmelade einkocht.
„Und den Rest erledigen wir mit einer Vitaminpille”, grinst sie und zeigt ihre weißen Zähne.
Es ist Zeit, zu essen und der Topf wird mitten auf den Tisch gestellt. Man sollte dazusagen, dass dies kein gewöhnlicher Topf ist. Er ist ziemlich groß. Ich würde auf 10-15 Liter tippen.
Jens serviert uns das Essen, während er vom regionalen Bier erzählt, das er gleich öffnen wird.
„Richtig regional ist es nicht, da es in Nuuk gebraut wird, aber grönländisch ist es”, grinst er.
Nini berichtet, dass sie meistens Fleisch essen, das Jens geschossen hat, aber auch Reis und ziemlich viele Kartoffeln.
Die Suppe ist heiß, sehr heiß. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Fettaugen gerne am Gaumen kleben. Das Fleisch des großen Tieres schmeckt ein bisschen nach Wild, aber mehr noch nach Ochsenfleisch durchzogen von Umami-Geschmack.
Jens erzählt, dass Moschusochse in dieser Gegend ein Grundelement der Speisekultur darstellt. Dieses wie auch Rentier, Schneehase und Schneehuhn sind die typischen Fleischsorten, die man hier in die Finger bekommt.
Selbstverständlich gibt es im Supermarkt auch teures und langweiliges Schweinefleisch aus Dänemark, aber alle am Tisch sind sich völlig einig, dass es bescheuert wäre, ein kleines Vermögen für Fleisch auszugeben, das wesentlich schlechter als das leckere, selbsterlegte Wildfleisch ist, welches wir nun essen. Es ist nämlich Jens höchstpersönlich, der auf die Jagd geht, wenn er nicht mit Touristen auf geführten Wandertouren unterwegs ist.
Er berichtet, dass er zu Beginn des Winters einen kleinen Schlitten, seine beiden Hunde und ein Zelt mitnimmt, um raus in die Berge zu wandern und das Zelt als eine Art Basislager für die Winterjagd aufzubauen. Hierher kehrt er in der kalten Jahreszeit mehrmals zurück, gerne für drei Tage am Stück, an denen er jagt, das Fleisch zerlegt und die Häute für Nini einwickelt, damit sie aus dem warmen Unterfell Garn herstellen kann.
Jetzt entwickelt sich das Gespräch in eine andere Richtung; mir kommt nämlich der Gedanke, dass es in dieser Gegend nahezu unmöglich ist, im Alltag weniger Fleisch zu essen oder sogar Vegetarier zu sein.
„Das ist einfach etwas, was sich kaum jemand leisten kann”, erklärt Nini: „…Gemüse ist zu teuer und es stellt sich eigentlich auch die Frage, wie viele Vitamine da noch übrigbleiben, wenn es als Fracht den langen Weg transportiert wurde?”
Nini und ich unterhalten uns ein wenig darüber, welche wilden Kräuter und Beeren man hier im Sommer finden kann. Sie sagt mir, dass es hauptsächlich Brombeeren und Wacholderbeeren sind, die sie sammelt, aber auch Engelwurz, wilder Thymian, Sumpfporst und Grönländischer Porst.
Den letztgenannten kenne ich überhaupt nicht, aber Nini erklärt gutgelaunt, dass es die Blätter einiger Sträucher sind, die als Gewürze verwendet werden. Viele machen daraus aber auch Schnaps. Der kann ziemlich heftig werden, wenn man nicht darauf achtet, die Blätter recht schnell aus dem Alkohol zu nehmen.
Nini nutzt den Grönländischen Porst meistens als Gewürz an ihren Gerichten aus Rentier und Moschus und das passt sehr gut, weil der auch im natürlichen Futter der Tiere vorkommt, sagt sie. Sumpfporst wird häufig als Heilpflanze verwendet. Er soll u.a. einen positiven Effekt auf Schuppenflechte haben.
Wir sagen auf Wiedersehen und ich hoffe, dass ich auf der fünf Minuten langen Autotour zurück zum Hotel nicht einschlafen werde.
Vielen Dank für das gute Essen, Nini.